Fakten

Etwa 30% der 80-Jährigen und Älteren sind von einer Sehbehinderung betroffen. Der Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen (SZB) berechnet fast 250'000 Betroffene über 60 Jahre in der Schweiz (vgl. «Sehbehinderung, Blindheit und Hörsehbehinderung: Entwicklung in der Schweiz», 2019).

Die Anzahl der Menschen mit Hörbehinderung im Alter dürfte nach verschiedenen Berechnungen höher liegen (vgl. z.B. Obsan Bericht 01/2022).

Bei den hochaltrigen Menschen ist davon auszugehen, dass mehr als 50% von einer Sinnesbehinderung betroffen sind.

Anzahl Betroffene mit Sehbehinderung und Pflegebedarf

In der Schweiz dürften 40'000 bis 60'000 Personen eine Sehschädigung und Pflegebedarf haben.

  • Sehschädigung: organische Augenerkrankung (ophthalmologisch und/oder neuroophthalmologisch), hat Auswirkungen auf die Funktionen des Sehens, auf Gleichgewicht, Steuerung und Kontrolle sowie Psyche
  • Sehbehinderung: funktionale, psychische und psychosomatische Auswirkungen der visuellen Wahrnehmungseinbusse, die auch nach Korrektur (z.B. mit einer Brille) anhalten und zu Beeinträchtigungen in einem sehenden und stark visuell orientierten Umfeld führen (Wechselwirkung Person-Umwelt)


Die häufigsten Erkrankungen, die im Alter zu einer Sehbehinderung führen, sind die Altersbedingte Makuladegeneration (AMD, feuchte und trockene Form), Katarakt (Grauer Star), Glaukom (Grüner Star), Netzhautablösung und diabetische Retinopathie.

Mögliche Sehprobleme abhängig von der Sehschädigung:

  • AMD: Die Informationen in der Mitte des Gesichtsfeldes entfallen zunehmend. Beeinträchtigt sind das Lesen, das Erkennen von Gesichtern, manuelle Tätigkeiten, die Orientierung im nahen Umfeld (auf dem Tisch, in der Küche, im Badezimmer), die Bewältigung des Alltags. Das äussere Gesichtsfeld bleibt erhalten, die Orientierung im Raum (Zimmer, Haus, Aussenräume) ist deshalb weiterhin gut möglich.
  • Grauer Star: Über allem liegt ein grauer Schleier, der so dicht werden kann, dass nur noch Helligkeitsunterschiede wahrnehmbar sind. Die Blendempfindlichkeit steigt.
  • Grüner Star: Es kann zu Einschränkungen des Gesichtsfeldes kommen, bis hin zum «Röhrenblick». Die Orientierung im Raum ist stark erschwert, das Lesen und Handarbeiten dagegen teilweise noch gut möglich.
  • Netzhautablösung: Ausfälle abhängig vom betroffenen Ort auf der Netzhaut und von der Grösse des geschädigten Areals.
  • Diabetische Retinopathie: Verschlechterung der Sehschärfe bis hin zur Erblindung

Sehschädigungen im Alter werden häufig nicht erkannt. Betroffene empfinden Probleme mit dem Sehen im Alter als normal und gehen nicht regelmässig zum Augenarzt.

Wir sehen mit dem Gehirn

Das Gehirn spielt die Hauptrolle beim Sehen. Es macht aus den elektrischen Impulsen aus dem Auge überhaupt erst Bilder. Dabei nutzt es auch bereits gespeicherte visuelle Informationen und ergänzt Fehlendes («Filling-in»). Das ist ein normaler Prozess des Gehirns. Es führt aber dazu, dass bei Gesichtsfeldausfällen keine weissen oder schwarzen Flecken anzeigen, was man nicht sieht, sondern das Bild undeutlich und unscharf, aber ganz wirkt.

Das Gehirn kann visuelle Halluzinationen produzieren («Charles-Bonnet-Syndrom», CBS), analog zu einem Phantomschmerz oder einem Tinnitus. Das führt oft zu Fehlinterpretationen Demenz statt Sehbehinderung, bei den Betroffenen selbst und im Umfeld. Diese Halluzinationen sind nicht zu verwechseln mit visuellen Halluzinationen bei Psychosen oder Demenz!

Auswirkung als Behinderung

Wenn keine medizinische Therapie veranlasst wird oder eine solche nicht möglich ist, wirkt sich die Sehschädigung im Alter als Behinderung aus: Die Selbstversorgung kann ebenso beeinträchtigt sein wie die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.


Folgen von Sehschädigung sind bzw. können sein:

  • physische Folgen (direkte Folgen oder durch die Sehschädigung verstärkte Wirkung): Orientierungsprobleme, Bewegungseinschränkungen und Bewegungsmangel, Kreislaufprobleme, Mangelernährung, Tag- Nacht-Rhythmus-Störungen, Hautprobleme u.v.a.m.
  • psychische Belastungen: u.a. Angststörungen, Depression bis hin zu Suizidalität
  • psychosoziale Auswirkungen: sozialer Rückzug, Desintegration, Verhaltensauffälligkeiten

Es ist eine Herausforderung, die vielfältigen funktionalen, kognitiven und emotionalen Folgen mit der Sehschädigung in Verbindung zu bringen und zu bewältigen.

Viele Folgen sind mit spezifischer rehabilitativer Unterstützung weitgehend reversibel (vgl. Studien von Wahl & Heyl 1990-2010). Bei komplexeren Situationen (Multimorbidität) können sie mit sehbehinderungsspezifischer Pflege gelindert werden. In vielen Fällen kann Selbständigkeit aufrechterhalten oder wiedererlangt werden.

Sehbehinderung wird von den Betroffenen mehrheitlich als Altersfolge hingenommen oder aus Furcht vor Kosten, vor Abhängigkeit, aus Scheu, sich unangemessen zu verhalten oder aus ähnlichen Gründen versteckt. Im privaten und im professionellen Umfeld werden Sehbehinderung und ihre Zusammenhänge mit Folgeproblemen meist nicht als solche erkannt. Rehabilitative Massnahmen zur Verbesserung der Selbständigkeit und der Lebensqualität bleiben aus.

Seh- und Hörbehinderung sind wesentliche Aspekte der Indikation zu «Altersfreitod» bei der Sterbehilfeorganisation Exit (vgl. auch Studie von Waern et al. 2002). Die Suizidrate von Menschen mit Sehbehinderung ist hoch. Konkrete Zahlen liegen aber nicht vor.

Unterschiedliche Beeinträchtigung bei Hör- und Sehbehinderung

Hör- und Sehbehinderung können sich gegenseitig verstärken. Beide beeinträchtigen das Sozialleben und belasten den seelischen Zustand (psychische und psychosoziale Ebene). Sehbehinderung beeinträchtigt zusätzlich die Steuerung und die Kontrolle von Aktivitäten im Alltag (Handlungen, Tätigkeiten) und damit die alltagspraktischen Fähigkeiten bis hin zur Selbstpflege. Unbegleitete Sehbehinderung kann zu Pflegeabhängigkeit führen.


Presbyakusis ist die alterskorrelierte Schwerhörigkeit. Sinneshärchen in der Hörschnecke (Cochlea) degenerieren von aussen her. Dadurch geht die Wahrnehmung von Hochfrequenztönen verloren. Das Sprachverstehen wird beeinträchtigt, v.a. bei Nebengeräuschen.

Häufige Folgen:

  • psychische Belastungen: u.a. Scham, Resignation, Depression
  • psychosoziale Auswirkungen: sozialer Rückzug, Desintegration, Verhaltensauffälligkeiten
  • kognitive Auswirkungen: inadäquate Antworten und Reaktionen, kognitive Beeinträchtigungen

Zu beachten:

  • Konitive Folgen nur noch beschränkt reversibel, wenn über längere Zeit Hörverlust nicht mit Hörhilfen kompensiert wird.
  • Hörhilfen frühzeitig anpassen und regelmässig nutzen sowie regelmässig professionell reinigen lassen.

Gefahr der Fehlbeurteilung als Demenz ist hoch.


  • Im Erwerbsalter erhalten Personen mit Seh- und Hörbehinderung gute Unterstützung.
  • Seh- und Hörbehindertenverbände bieten auf Basis des IVG (Invalidenversicherungsgesetz) Informationen und Hilfsmittel an. Bei ihnen gibt es Beratungs- und Rehabilitationsangebote sowie kulturelle, sportliche und soziale Begegnungsmöglichkeiten. Sie haben einen staatlichen Auftrag zu Prävention. Die Beratungsstellen erreichen einen kleinen Teil der Personen, die im Alter seh- oder hörbehindert werden. Möglicherweise sind die Angebote zu wenig bekannt oder sie werden als nicht passend beurteilt.
  • Bei Augen- und Ohrenproblemen werden die medizinisch möglichen Therapien altersunabhängig erbracht. Das Problem muss aber erkannt und ein Facharzt aufgesucht wird. Nicht nur in ländlichen Gegenden bleibt der Besuch beim Facharzt oft aus.
  • Fachpersonen der Langzeitpflege (Spitex und Alterseinrichtungen) sind in medizinischer Augenpflege ausgebildet (u.a. Augentropfen, Salben verabreichen). Nur selten kennen sie die komplexen Zusammenhänge des Sehens und insbesondere die neuroophthalmologischen (mit dem Gehirn zusammenhängenden) Funktionen. Das Verhalten Betroffener bei visuellen oder auditiven Wahrnehmungseinbussen wird oft fehlgedeutet.
  • Die Pflege-Arbeitsinstrumente RAI bzw. RAI home care, die in rund der Hälfte der schweizerischen Alterseinrichtungen üblich sind, führen bei korrekter Erfassung der Einschränkungen durch Sehschädigung zu Vorschlägen einer auf Demenz ausgerichteten Pflege. Ein Arbeitsinstrument für Langzeitpflege, das Sehbehinderung korrekt berücksichtigt, gibt es (noch) nicht.
  • Die möglichen rehabilitativen pflegerischen Leistungen zur Wiedererlangung der Selbständigkeit mit einer Sehbehinderung sind weder in der Lehre noch in der Praxis bekannt.
  • Personen mit Hör- und Sehbehinderung im Alter, die pflegebedürftig werden, sind in der Langzeitbetreuung fehlversorgt. Systematische Diagnosen und rehabilitative Behandlung fehlen.


Über die Hälfte der Personen im hohen Pensionsalter sind hör- oder sehbehindert. Die gesundheitliche Versorgung ist ungenügend. Damit ist der Bedarf auf unterschiedlichen Ebenen gegeben:

  • Gesundheitspolitische Ebene: Entscheidungen für sinnesbehinderungsspezifische Pflege und Betreuung mit allen nötigen Anpassungen, z.B. von rechtlichen Rahmenbedingungen
  • Information der breiten Öffentlichkeit über die Problematik und die Unterstützungsmöglichkeiten, welche die Inklusion unterstützen
  • Anpassung der Aus- und Weiterbildungsgänge im Gesundheitswesen
  • Information und Schulung der Fachpersonen in der Praxis

Menschen mit Sehbehinderung im Alter äussern im pflegerisch-medizinischen Kontext kaum das Bedürfnis nach rehabilitativer Unterstützung. Hilfreiche Massnahmen und der rechtliche Anspruch darauf sind noch wenig bekannt. Das Bedürfnis ist implizit, nicht explizit.

Inkludierende Betreuung ist notwendig

Das Thema Demenz brauchte weit über 30 Jahre, bis es in der Gesundheitspolitik des Bundes und in der Praxis der Alterspflege ankam. Bei Sinnesbehinderung im Alter darf das nicht so lange dauern.
Aufklärung kostet, ein starkes Engagement für behinderungsspezifische, d.h. die Inklusion fördernde Unterstützung, ist nötig.
Neben der besseren Lebensqualität für die Betroffenen gibt es zwei starke Begründungen dafür:

  • vermutlich sinkende oder mindestens sich stabilisierende Gesundheitskosten im Langzeitbereich (verbesserte Selbständigkeit eines grossen Anteils der Bewohnenden in Alterseinrichtungen, aufgeschobener oder nicht nötig werdender Eintritt in die Alterseinrichtung)
  • positive Signale an jüngere Generationen für gelingendes Altern auch mit einer Sinnesbehinderung


Das Invalidenversicherungsgesetz (IVG) regelt die Leistungen, die eine Person wegen Behinderung im Erwerbsalter beanspruchen kann.

Bei über 64-/65-Jährigen ist die IV nicht mehr zuständig, sondern die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) und allenfalls die Krankenversicherung.

Der Anspruch auf rehabilitative Leistungen wegen Behinderung ist in der Gesetzgebung zu AHV und Krankheit nicht vorgesehen. Betreuung, die wegen der Sinnesbehinderung notwendig ist, wird im AHV-Alter nicht finanziert.

Es ist verfassungswidrig und widerspricht der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), dass die Betroffenen behinderungsbedingte Leistungen zur Gleichstellung selbst finanzieren müssen.

Mit der Ratifizierung der UN-BRK verpflichtet sich die Schweiz seit 2014, für Personen mit Behinderung altersunabhängig die notwendige Unterstützung bereitzustellen.



Obsan Bericht 2022 zu Hör- und Sehbeeinträchtigungen in der Schweiz

Höglinger, D., Guggisberg, J. & Jäggi, J. (2022). Hör- und Sehbeeinträchtigungen in der Schweiz. Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium Obsan (= Obsan Bericht 01/2022). Bericht online bei Obsan


Faktenblatt

Faktenblatt zu Seh- und Hörbehinderung im Alter: Faktenblatt als PDF

 

KSiA